Ein Leben im Klang
Kaum ein Musiker verkörpert die Kraft der Musik so tiefgründig wie Abdullah Ibrahim. Der südafrikanische Pianist, Komponist und Jazzvisionär hat über Jahrzehnte hinweg Klangräume geschaffen, in denen sich Geschichte, Spiritualität und Improvisation zu einer unverwechselbaren Einheit verweben.
Anlässlich seines 90. Geburtstags durften wir in der aktuellen Piano Post mit dem mehrfach ausgezeichneten Künstler sprechen – ein Gespräch, das weit über Musik hinausging. Ibrahim erzählte mit beeindruckender Ruhe und Charme von seinen prägenden Momenten, seinem Verhältnis zum Klavier und der unerschütterlichen Überzeugung, dass Musik immer Ausdruck von Leben und Freiheit ist.
Ein Interview voller Weisheit, Leidenschaft und spiritueller Tiefe – mit einem Mann, der mit dem Klavier seit vielen Jahrzehnten eine besondere Sprache definiert.
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Weitere InformationenWie erinnern Sie sich an den Moment, als Sie das erste Mal ein Klavier berührten?
Meine Familie bestand aus Kirchenleuten. Meine Großmutter war Gründungsmitglied der African Methodist Episcopal Church AME, meine Mutter war dort Chorleiterin – und wer sich ein kleines ramponiertes Piano leisten konnte, hatte eines zuhause. Wo ich aufwuchs, waren wir die einzigen mit Klavier. Ich war wohl sechs Jahre alt, als ich meinen Zeigefinger auf eine Taste drückte – da schwang dieser wunderschöne Klang! Irgendwann verstand ich den Prozess von der Idee zum Ton zum Klang.
Zunächst erkannte Ihre Großmutter Ihr Talent …
Ja, sie schickte mich zum Lehrer der lokalen Schule, um Klavier zu spielen. Schon mit sieben schrieb ich erste eigene Lieder. Mit 16 Jahren beendete ich den Unterricht, machte ich mein eigenes Ding. In der Bücherei vor Ort las ich jedes Buch drei Mal, vertilgte alles regelrecht, auch die Schallplatten.
War dabei immer das Piano ihre große Liebe?
Ja, aber alle Instrumente interessierten mich. Mein erstes war die Stimme: Du singst in Chören, du singst bei sozialen Ereignissen, in feinen Zirkeln, beim Karneval – und am Klavier interpretierst du deine Erfahrungen. Das Piano kam vor allem in der Kirche und bei Tanz-Kombos zum Einsatz. Ich war wohl der erste, bei dem die Familie sah, dass das Klavier mir viele Möglichkeiten bot. Meine Großmutter spielte ja, aber keiner konnte Noten lesen. In den Kirchenchören lernte man durch Solfège, einer exzellenten Übung mit Vokalen, um Gehör und Gesang zu schulen, später vom Blatt zu singen. Auch Improvisieren: Wir müssen singen können, was wir spielen.
Wie sehr hat Sie Kapstadt und sein Umland als Schmelztiegel unterschiedlichster Menschen inspiriert?
Sehr! In unserer Gegend gab und gibt es eine große Vielfalt an Musik, gerade in Kapstadt mit seinem kosmopolitischen Hafen. Täglich kommen Schiffe aus allen Teilen der Welt an. Ich wuchs mit Menschen aus Afrika. Indien, China, Amerika auf – all das beeinflusste stark die Dynamik, wie wir Musik machten. Hinzu kamen die vielen verschiedenen Nationen im Inland. Kapstadt war und ist ein Treffpunkt für Menschen aus anderen Regionen Südafrikas und aus allen Teilen Afrikas. Da mischten sich Lieder der Khoisan, die Tanzmusik Marabi, US-amerikanischer Jazz und vieles mehr. Dort begann auch die Befreiung vom Kolonialismus. Inspirationen für Songs waren auch meine Mutter, Großmutter, Orte, Ereignisse, Freunde, die guten, die schlechten, die Gangster … Auf der Highschool hatte mir mein Englischlehrer gesagt, schreibe immer über das, was du am besten kennst.
Jazz wurde oft als Symbol für Resilienz beschrieben. Sie gaben schon 1982 in Maputo eine Serie von „Freiheitskonzerten“. Bedeutete Musik zu machen – bevor Nelson Mandela am 11. Februar 1990 nach 27-jähriger Haft frei gelassen, die Apartheid endlich abgeschafft wurde – Widerstand leisten?
Unsere Geschichte des Widerstands reicht schon hunderte Jahre zurück. Wir wunderten uns oft über diese Idee, wir seien Jazzmusiker. Wir bezeichneten uns nie als solche. Das ist ein abwertender Begriff. Es gibt Musik aus allerlei Ländern, deutsche, italienische, französische und so weiter … doch unsere Musik wird Jazz genannt. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Was wir spielen, ist die am höchsten entwickelte Form musikalischen Ausdrucks in der Geschichte des Planeten. Das wird manchmal weder erkannt noch geschätzt. Als junger Mann in Kapstadt studierte ich jegliche Art von Musik. Indische Musik, Ragas, melodische Strukturen für Improvisation und Komposition, und Talas, die Rhythmen. Dann Klassik, Bach, Beethoven, Prokofjew …. Wir kennen diese Musik, warum sollte ich sie also spielen? Klassik besteht aus Formeln, ich kenne alle, muss das nicht nochmals wiederholen. Aber ich kann Aspekte nutzen. Das Allerwichtigste sind die Dynamiken. So sagte Rumi (persischer Dichter und Sufi-Mystiker des 13. Jahrhunderts, d. Red.), es gibt nur einen Ton, der Rest ist Echo.
Als Musiker hatten Sie mit allen zu tun, John Coltrane, Ornette Coleman, Duke Ellington, den trafen sie in Zürich. Wie war das Echo dieser Begegnungen?
Sie alle sind nicht so sehr Musiker, eher die weisen Dorfälteren – wenn du ein Problem hast, dann gehst du zu ihnen. Schon bevor ich Ellington traf, hatte ich mich mit seiner Musik beschäftigt. Ich wollte seine Arrangements für die Band verstehen, das war mystisch! Diese Feinheiten lernt man nur von den Meistern. Ein Beispiel zum Saxofon: Den ganzen Tag übten die Musiker einer Big Band – zwei Alt, zwei Tenor, ein Bariton – mit einer Tabelle. Sie kriegten die Noten, aber nicht die Dynamik des Klangs. Das kam erst, als sie nach unzähligen Stunden merkten, wenn Alt und Tenor leiser, Bariton eine Prise lauter spielten, dann entstehen Obertöne. Die Stunden mit den Meistern hatte sich gelohnt!
Zurück ans Klavier und zur Politik: Beides brachte sie hinaus in die Welt. Das grauenhafte Sharpeville-Massaker 1960, die Clubschließungen und Verfolgungen in der Musikszene durch die Apartheid-Regierung ließen Sie Ihre Heimat verlassen. Doch in Südafrika produzierten Sie einige Ihrer bekanntesten Werke, etwa 1974 „Mannenberg – Is Where It’s Happening“, was zur inoffiziellen Hymne des African National Congress (ANC) wurde. Wie kam es dazu?
Bei öffentlichen Auftritten, sagten uns immer Leute ohne Ahnung unserer Musik, was wir spielen sollten und wie, auch im Aufnahmestudio. Dann kamen die Revolten: Die Jungen gingen auf die Straße, begehrten gegen das System auf, etwa weil alles in der Schule in Afrikaans gelehrt wurde. Nach dem Massaker von Sharpeville kam es zum Soweto-Aufstand, wo 23 Schüler und Schülerinnen starben. Auch Kapstadt ging in Flammen auf, junge Menschen wurden brutalst erschossen, Familienmitglieder ins Gefängnis geworfen. In dieser Lage fragte uns eine kleine Plattenfirma, ob wir etwas aufnehmen wollten. Im Studio spielten die jungen Musiker amerikanische Popmusik. Warum spielt ihr nicht in unserer Tradition, fragte ich, die ist viel komplexer! Im Studio des um uns brennenden Kapstadts wollten die Producer zunächst was anderes. In der Pause sah ich ein kleines Klavier in der Ecke, just wie einst zuhause. Das zog mich an …
Was geschah? Wenn ich an ein Piano gehe, sage ich nicht, ich werde dich jetzt spielen. Ich frage, was hast du, erzähle mir was. So kam die Melodie von Mannenberg zu mir. Ich holte die Musiker dazu, wir spielten spontan ohne Vorbereitung, der schlaue Toningenieur hatte alles, auch unser Gespräch, aufgezeichnet in einem Take, 17 Minuten am Stück. Als wir dann an der eigentlichen Studio-Session weiter arbeiten wollten, realisierten wir, gerade war etwas mit uns passiert! Uns wurde klar, wir hatten gefunden, was wir suchten. Es drückte aus, was auf den Straßen los war, wo auf unsere Freunde geschossen wurde. Der Saxofonspieler Basil kam von Manenberg, das 1966 in der Zeit der Apartheid als Township für Coloureds gegründet wurde. Wir machten Mannenberg daraus.
Hätten Sie damit gerechnet, dass es so ein riesiger Erfolg wird?
Nein. Kaum war das Stück veröffentlicht, bekamen wir unglaubliche Reaktionen, hörten viele Geschichten. Etwa, dass die Leute in den Zellen kommunizierten mit der Hookline, der Hauptphrase unseres Songs. Unwissentlich und unbeabsichtigt haben wir diesen historischen Moment musikalisch eingefangen. Manche sagen in der Tat, damals sei es zu einer Art Nationalhymne des African National Congress (ANC) geworden. Wir sind gesegnet!
Auch mit Polyphonie und Obertönen …
Absolut! Ich nahm meine amerikanischen Musiker mit nach Südafrika. Sie alle hatten Masterabschlüsse in der Tasche, von Berkeley und anderen Unis. Wir gingen in den Busch und ich ließ 20 traditionelle Familien performen. Meine Musiker haute es komplett um! Mein Schlagzeuger fragte mich, welchen Rhythmus tanzt denn da die 80-jährige Dame, einen Siebener? Nein, antwortete ich, das nennt man ‚Beine’. Es ist natürlich, steckt in uns, die Tanzenden denken nicht darüber nach oder zählen gar die Takte.
Sie beschrieben, wie Sie mit dem Klavier kommunizieren, wie das Instrument zu Ihnen spricht. Oft spielen Sie einen Fazioli. Ist das „Ihr Piano“?
Eine Geschichte dazu! John Coltane übte ständig, morgens zur Arbeit, abends beim Heimkommen, in seiner Wohnung konnte man sich kaum bewegen, weil Mundstücke über den ganzen Boden verteilt waren, mit denen er experimentierte. Kurz: Vom Instrument will man eine Antwort, eine Reaktion! Als ich mal in einem Londoner Studio üben wollte, sagte jemand, hier ist ein Fazioli. Was ist das, wollte ich wissen, ging in den Übungsraum, berührte die Tasten und – wow. Paolo Fazioli lud mich in seine Klavierfabrik in Italien ein. Als ich sah, wie da hergestellt wurde, das technische Know-how, das Holz, unglaublich. Ein Fazioli gibt mir unendlich viele Möglichkeiten, auch dank der Pedale. Sie bringen so viel mehr Farben ins Spiel – es ist das schönste Instrument, das ich jemals berührt habe.
Von Südafrika kommend lebten Sie an einigen Orten der Welt, etwa Zürich und New York. Und nun im Chiemgau – was gefällt Ihnen hier?
Ich spielte ein Solokonzert in der Nationalgalerie von Kapstadt, am Freitag, Samstag, Sonntag … Am letzten Nachmittag sah ich eine wunderschöne Erscheinung im Gang, sagte zu meinem Assistenten, schnell, spreche zu dieser Erscheinung. Er brachte diese junge Dame (verweist schmunzelnd auf seine Ehefrau, d. Red.)! Nun bin ich hier.
Regisseur Ciro Cappellari drehte 2004 die dokumentarische Hommage „Abdullah Ibrahim – A Struggle for Love“, dafür gab es den Grimme-Preis. Sie komponierten auch Filmmusik, etwa für Chris Austins „A Brother with Perfect Timing“, einen Dokumentarfilm über sie. Zudem für „Chocolat – Verbotene Sehnsucht“ und „S’en fout la mort“, beides von Claire Denis. Wie war das?
Am besten zusammenarbeiten konnte ich mit der französischen Filmemacherin Claire Denis. Ich hatte die Idee, dass ein Instrument den Filmcharakter symbolisiert. Das war eine großartige, echte Kooperation, in der ich aus dem Vollen schöpfen konnte. Denn das Erbe Afrikas ist enorm. Das ist bisher weder akzeptiert noch aufgearbeitet worden, aufgrund vieler Jahre Kolonialismus. Wir haben der Welt Mathematik und Wissenschaft gegeben. Vor einigen Jahren kaufte ich in der Kalahari eine Farm. Von dort, aus dem Busch, stammten meine Großeltern, die Völker haben die älteste Geschichte der Welt mit unermesslichem Wissensschatz. Nahe der Farm ist Adam’s Calendar, die älteste, von Menschen erschaffene Struktur auf dem Planeten, (megalithischer Steinkalender Provinz Mpumalanga, d. Red.) Wir wachsen damit auf, wussten so zum Beispiel schon als Kinder, dass Sirius ein Doppelstern ist – was die westliche Wissenschaft erst viel später entdeckte. Mit dem Forschungsprojekt versuchen wir, unsere gemeinsamen Wurzeln der Menschheit zu dokumentieren.
Petra Mostbacher-Dix
Konzert-Tipp
Wie jedes Jahr feiert Abdullah Ibrahim seinen Geburtstag mit zwei exklusiven Konzerten beim Gasthof “Hirzinger” in Söllhuben.
Die Konzert-Termine dazu finden Sie hier.
Behind the scenes







